„Wacht
auf! Beeilt euch und rennt, wenn ihr nicht alle sterben wollt,
schrie der Nachbarsohn kurz nach Mitternacht durch unser Fenster. Wir
wussten nicht, was los ist, spürten aber an seiner Stimme,
dass es
etwas sehr Ernstes sein musste. Wir öffneten die Tür
und
begannen sofort zu husten und unsere Augen fingen an zu brennen: Gas
strömte ins Haus. Und so rannten auch wir, jeder mit dem, was
er
gerade anhatte. Wir liefen alle in Richtung Krankenhaus, jeder rannte
um sein Leben! Ich konnte meine Augen kaum mehr öffnen.
Diejenigen, die hinfielen, blieben liegen, niemand konnte ihnen helfen.
Die Nachfolgenden rannten einfach über sie
hinweg.“ So erzählte mir Frau Champa Devi ihre Geschichte aus der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984. In jener Nacht strömten in der indischen Stadt Bhopal über 40 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat (MIC) unkontrolliert aus dem Tank 610 der Chemiefabrik der Union Carbide India, einer Tochterfirma des amerikanischen Konzerns Union Carbide Corporation. Die Firma produzierte hier in Indien das Schädlingsbekämpfungsmittel Sevin. Es war die bisher schlimmste, vom Menschen verursachte Umweltkatastrophe der Geschichte. In jener Nacht starben fast 4.000 Menschen sofort, in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten schätzungsweise weitere 25.000 Menschen, vielleicht aber auch noch mehr. |
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Aufnahme eines damaligen
Opfers,Gerichts-
medizinisches Institut, Bhopal |
„Mein
Mann stürzte und schrie laut auf. Er stöhnte, er habe
sich
den Bauch aufgeschlitzt, als er fiel. Als wir dennoch irgendwie beim
Krankenhaus ankamen, hatten meine beiden Töchter
weißen
Schaum vor Mund und Nase, mein Jüngster wurde bewusstlos. Gott
gab
mir die Kraft, meine eigenen Schmerzen zu vergessen, um zu versuchen,
meine Familie zu retten. In der Nähe sah ich Wasser aus einem
Rohr
tropfen. Ich tränkte den Schal meiner ältesten
Tochter damit
und reinigte die Gesichter meiner Kinder. Sie fühlten sich
sofort
etwas besser und mein Jüngster kam wieder zu sich. Auf dem
Platz
vor dem Krankenhaus warteten sehr viele Menschen, ihre Schreie hallten
durch die Nacht. Tote Körper wurden wie Weizensäcke
auf einem
Stapel aufgetürmt. Die Ärzte hatten keine Ahnung, was
sie tun
sollten, welche Medikamente sie verabreichen sollten. Ich hatte
große Angst!“ Champa Devi verlor durch diesen Unfall fast ihre komplette Familie. Ihre jüngste Tochter war danach gelähmt, nicht einmal sprechen konnte sie mehr. Ihr ältester Sohn litt danach so sehr an Atemnot, dass er sich das Leben nahm. Ihr Mann hatte sich beim Sturz die Blase aufgerissen, er starb infolge der Verletzung an Blasenkrebs. Ihr jüngster Sohn, auch er ein Opfer des Gases, kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Nach all diesen Tragödien begann Champa Devi, sich für ein Recht auf Arbeit für die Opfer einzusetzen. Nach vielen leeren Versprechungen gründete sie mit Frau Rashida Bee die Hilfsorganisation „Chingari Trust“ und widmete den Rest ihres Lebens dem Kampf für Gerechtigkeit für die Gasopfer. Im Jahr 2004 erhielten sie gemeinsam als jüngste Auszeichnung den Goldman Environmental Prize, einen der bedeutendsten Umweltschutz-Preise. Die Menschen, die in der Nacht das Gas einatmeten und nicht sofort daran starben, litten in der Folge vor allem an Lungenödemen, Sehschwierigkeiten, Lähmungen, Hirnschäden sowie Herz-, Leber- und Nierenschädigungen. Als Langzeitwirkung traten verstärkt Krebs auf, bei Frauen auch Fehl- und Missgeburten sowie Unfruchtbarkeit. Insgesamt kursieren heute geschätzte Zahlen zwischen 250.000 bis 500.000 geschädigte Menschen, niemand weiß es genau. |
Registrierte Tote direkt nach dem Unfall. Aufnahme mit Genehmigung des Gerichtsmedizinischen Instituts, Bhopal |
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Nach
dem Unfall zahlte der Mutterkonzern Union Carbide Corporation 7 Mio.
Dollar Soforthilfe, außerdem schickte er ein internationales
Ärzteteam sowie medizinische Ausrüstung nach Bhopal.
Der
damalige Geschäftsführer, Warren Anderson, reiste
vier Tage
nach der Katastrophe nach Indien, wurde aber sofort bei Ankunft unter
Hausarrest gestellt. Er verließ das Land sofort wieder gegen eine Kaution von ca. 2.000 US$. Vom Obersten Indischen Gerichtshof später in Abwesenheit der fahrlässigen Tötung für schuldig gesprochen, lehnte die amerikanische Regierung alle indischen Auslieferungsanträge ab. Warren Anderson war bis zu seinem Tod am 29. September 2014 eine Projektionsfigur für die Wut der Bhopal-Opfer und Aktivisten: „Hang Anderson“ war bis vor kurzem einer der Slogans, oder: „Where’s Warren?“. |
Geistig behinderter Junge,
Chingari Trust, Bhopal
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Langzeitopfer im Krankenhaus: über 100 kostenlose Behandlungen wegen Lungenschädigungen seit 1984 |
Im Februar 1989 einigten sich die indische
Regierung als Vertreterin
der Bhopal-Opfer und Union Carbide Corporation (UCC)
außergerichtlich
auf eine Entschädigungssumme in Höhe von 470 Mio.
US$, plus dem Bau
eines Krankenhauses für die Gasopfer samt langfristiger
Finanzierung
der kostenlosen Behandlung der Patienten. Im Gegenzug erhielt die UCC
eine Garantie, die sie vor weiteren Forderungen und Strafverfolgungen
in Indien schützte. Versicherungen steuerten weitere 250 Mio.
US$ zur
Entschädigung der Opfer bei. Geschädigte Personen bekamen dann in einer ersten Tranche 25.000 INR, Langzeitgeschädigte nach 10 Jahren dann nochmals dieselbe Summe. Union Carbide India erwirtschaftete 1984 einen Umsatz von etwa 200 Mio. US$, die Firma beschäftige in ganz Indien 9.000 Mitarbeiter in 14 Fabriken. Die amerikanische Muttergesellschaft Union Carbide Corporation besaß 50,9 Prozent der Aktien, etwas über 24 Prozent der Aktien gehörten der indische Regierung, die restlichen Anteile wurden von Kleinaktionären gehalten. Der weltweite Umsatz des Mutterkonzerns in den USA betrug damals 9,4 Mrd. US$. Um mir ein Bild über die damalige Situation in der Fabrik zu machen, sprach ich mit einem ehemaligen Angestellten der Union Carbide India. Ich traf Mohammed Yaqub in seiner Wohnung. Er ist heute 64 Jahre alt. Ab 1977 arbeitete er als Wartungsarbeiter in der Fabrik und er ist sich sicher, dass er dieser Tatsache sein Leben verdankt. Die Angestellten erhielten damals Sicherheitstrainings, denn es gab immer wieder Zwischenfälle. Einmal brannte es, und ungefähr ein Jahr vor der Katastrophe starb ein Mitarbeiter, der direkt mit Methylisocyanat in Kontakt kam. Also wusste Mohammed, wie gefährlich das Gas war. „Ich war in dieser Nacht zu Hause, ich hatte keine Nachtschicht. Wir waren noch wach, als es passierte. Ich konnte schon das Gas riechen, es hat so einen typischen, beißenden Geruch und ich sagte zu meiner Frau, dass da etwas nicht stimmte. |
Als dann die Leute auf der
Straße anfingen
zu schreien und zu rennen, rannten wir mit. Unsere Augen fingen an zu
brennen und ich wusste, dass ich sofort handeln musste. Ich sagte zu
meiner Frau und meinen beiden Söhnen, sie sollen die Schuhe
ausziehen
und mir ihre Socken und Innensohlen geben. Damit lief ich zu einer
Wasserpumpe und durchnässte alles. Wir hielten uns dann die
nassen
Sachen vor Nase, Mund und Augen und saßen still auf einer
Wiese, neben
der Straße. Nach zwei, drei Stunden war das Gas verflogen und
wir
gingen wieder nach Hause. An den Bäumen der Straße
hatten sich die
Blätter gelb verfärbt, überall lagen
regungslose Menschen, Kühe und
Hunde, auch Ziegen, sie waren alle tot. Die nächsten Tage
hatten wir
noch Atemprobleme und die Augen brannten, aber nach ein paar Wochen
ging es uns wieder einigermaßen gut.“ Ich machte ein paar Fotos von Mohammed, und er zeigte mir seine alte Firmenplakette, die er eigentlich hätte abgeben müssen. Aber damals fand er sie nicht, erst Monate später wieder, zufällig. Stolz sei er gewesen damals, für die amerikanische Firma arbeiten zu dürfen. Aber sie machte nicht genug Umsatz und sie mussten sparen, beim Personal, aber auch bei den Sicherheitsvorkehrungen. So gab es zwar ein separates Kühlsystem für die „MIC-Tanks“, aber das wurde fünf Monate vor dem Unfall abgeschaltet. Die Reinigungsanlage zur Beseitigung und die Fackel zum Abbrennen von austretenden Gasen waren seit drei Monaten ebenfalls abgestellt. Er glaube aber nicht, dass diese Sicherungssysteme die Katastrophe verhindert hätten. Es hätte einfach kein Wasser in den Tank 610 eindringen dürfen, was Experten später als Ursache des Unfalls ausgemacht hatten. Das flüssige Methylisocyanat in dem Tank reagierte mit dem Wasser, erhitzte sich, wurde dabei gasförmig und dehnte sich aus. Irgendwann platzte dann das Sicherheitsventil und das Gas strömte aus dem Tank. Nur der Grund für das Eindringen des Wassers in den Tank konnte nie geklärt werden, weder von der Union Carbide Corporation noch von der Gewerkschaft. Für die Experten kamen drei mögliche Ursachen infrage: Eine Verwechslung einer Wasser- mit einer Stickstoffleitung, defekte Ventile bei Reinigungsarbeiten an den Filtern oder eine absichtliche Zufuhr von Wasser, also Sabotage – diese These wurde durch die Union Carbide Corporation ins Spiel gebracht. Auch die Sirene sei zunächst abgeschaltet worden, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen! |
Mohammed Yaqub, ehemaliger
Angestellter der Union Carbide India
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Gedenkstätte für die Giftgasopfer von 1984: "No Hiroshima, no Bhopal - we want to live" Eine der vielen Opferfamilien: Die Großmutter ist seit dem Gasunglück gehbehindert, ihr Mann ist gestorben, ihre Tochter ist gesund, die Kleine ist ebenfalls gehbehindert |
Bei allen Gesprächen
wurde deutlich, dass zum Problem der
Langzeitwirkung des Gases noch ein zweites hinzugekommen ist: das
Problem der vergifteten Umwelt auf dem Fabrikgelände und,
damit
verbunden, das verseuchte Grundwasser. Das ist der eigentliche Skandal
heute, er wird inzwischen auch Bhopals zweite Katastrophe genannt. Die
Folge seien andauernde schwerwiegende Gesundheitsprobleme, vor allem
muskuläre Probleme, vermehrt auftretende Missgeburten sowie
auffallend
häufige Krebsfälle. Die Probleme, den Unterhalt weiterhin regelmäßig zu verdienen, und die damit einhergehenden sozialen und emotionalen Schwierigkeiten durch zerstörte Familien würden bisher nicht ausreichend thematisiert und anerkannt. Experten schätzen, dass bis zu 30.000 Tonnen (!) giftige Substanzen auf dem ehemaligen Fabrikgelände verkippt wurden. Boden- und Grundwasseranalysen von verschiedenen Organisationen (NGOs, Greenpeace, und das Centre for Science and Environment in Neu Delhi*) aus unterschiedlichen Jahren haben ergeben, dass das gesamte Gelände und seine Umgebung hochgradig mit Pestiziden, chlorierten Benzolen und Schwermetallen verseucht ist. In erster Linie wurden sehr hohe Konzentrationen der giftigen Insektizide Aldicarb und Carbaryl („Sevin"), aber auch des Halbmetalls Arsen und der Metalle Quecksilber, Chrom, und Blei festgestellt. Außerdem wurden in allen Bodenproben hohe Konzentrationen der Dichlorbenzole 1,3 und 1,4 sowie von 1,2,3-Trichlorbenzol nachgewiesen, krebserregende Lösungsmittel, die Leber, Nieren und Lungen angreifen. Proben des Grundwassers außerhalb des Fabrikgeländes wurden an verschiedenen Stellen innerhalb eines Radius von 4 km um das Gelände entnommen. Das Profil der dort nachgewiesenen Chemikalien entspricht dem der Chemikalien in der Deponie auf dem ehemaligen Fabrikgelände. - - - * Die hier angeführten Daten zu diesem Thema beruhen auf diesem Bericht. - - - |
Arbeiterviertel in Bhopal, im Hintergrund die ehemalige Fabrik |
Alte Fabrik der Union Carbide India |
Alte Tanks der Fabrik verrotten, niemand fühlt sich zuständig |
Ehemaliger Kontrollraum der Fabrik |
Ehemaliges Labor heute |
Hinweisschild im ehemaligen Kontrollraum |
Tank 610, aus dem das Methylisocyanat ausströmte |
Sirenenturm im Firmengelände heute |
Warnschild
im Kontrollraum der ehemaligen Fabrik: “Your
attention
please: There is release of toxic gas …“
Man wusste genau, wie gefährlich das Zeug war. |
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2004,
zwanzig Jahre nach dem Unfall, hat der Oberste Indische Gerichtshof
entschieden, dass die fünfzehn betroffenen Gemeinden in Bhopal
mit
sauberem Wasser versorgt werden müssen. Deshalb wurden
überall in diesen Gemeinden oberirdische Wassertanks
aufgestellt.
Allerdings, so meine Gesprächspartner einhellig, funktioniere
die
Wasserversorgung über die Tanks nicht gut. Entweder seien sie kaputt oder zu schnell leer, da die Tankwagen nicht oft genug kämen. Es sei jedenfalls nie genug sauberes Wasser da, und so seien sie gezwungen, wieder die alten Handpumpen zu benutzen. Dass man es bisher nicht geschafft hat, das vergiftete Erdreich zu entsorgen und das Grundwasser zu reinigen, scheiterte sowohl an der Finanzierung als auch an den fehlenden Entsorgungsanlagen. Deshalb trat im Jahr 2012 die indische Regierung an die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) heran, die jahrzehntelange Erfahrung bei der Entsorgung von Sondermüll hat. |
Einer von vielen Wassertanks in den betroffenen Vierteln |
Ehemals betroffenes Wohngebiet mit Wassertanks |
Die GIZ hat
jedoch ihr anfängliches Kooperationsangebot nach dreimonatigen
Vertragsverhandlungen zur Entsorgung von zunächst 350 Tonnen
kontaminierter Erde recht unvermittelt wieder zurückgezogen.
Auf
der Homepage der GIZ hieß es damals dazu nur: „Die
umfangreichen Verhandlungen konnten in dem Zeitraum nicht zu einem Ende
geführt werden. Damit wuchsen die Unsicherheiten auf beiden
Seiten, auch in der deutschen Öffentlichkeit. Eine Entsorgung durch die GIZ ist keine Option mehr.“ Indische Umweltschützer waren überrascht von der unerwarteten Entscheidung. Die GIZ habe das Projekt mitangeschoben, daher sei es seltsam, dass sie sich nun zurückziehe, sagte damals Rachna Dhingra von der Internationalen Kampagne für Gerechtigkeit in Bhopal. |
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Wohngebiete um das ... |
...
ehemalige Fabrikgelände
|
Eigentlich
hätte schon längst Gras über die Katastrophe
wachsen
können. So, wie über die Gräber des
muslimischen
Friedhofs. Wenn man nur all die Versprechungen eingelöst, wenn
man
nur das Gelände schon längst von seinem
Giftmüll befreit
hätte. Doch so wächst das Gras nur über den
alten
Gräbern des Friedhofs, der im Verlauf der Stunden und Tage
nach
der Tragödie schnell zu klein wurde. Alte Gräber mussten damals geöffnet, heilige Gebote des Islam gebrochen werden. „Ich weiß“, klagte damals einer der Totengräber, „es ist eine Sünde, zwei Tote in ein Grab zu betten. Allah mag uns vergeben – wir legten drei, vier und mehr noch hinein.“ Die Hindus verbrannten all die Toten, immer 25 auf einmal. Da aber schnell das Holz für die rituelle Verbrennung ausging, überschüttete man sie, ebenso gegen den religiösen Brauch, mit Kerosin, um sie zu verbrennen. |
Alter Teil des muslimischen Friedhofs in Bhopal |
Stattdessen
ist im Laufe der Jahre aus der Umweltkatastrophe ein Wirtschaftskrimi
geworden. 1994, zehn Jahre nach dem Unfall, verkaufte die Union Carbide
Corporation ihren Anteil an der Union Carbide India an die Mcleod
Russel India, die wiederum zur Investmentgesellschaft Williamson Magor
Group gehört. Die Firma wurde dabei in Eveready Industries
India
Ltd. umbenannt, nach der bekannten Batteriemarke der Union Carbide
Corporation. Als Teil der Vereinbarung mit der indischen Regierung
baute die Union Carbide Corporation dann mit dem Erlös des
Verkaufs zwischen 1995 und 1999 das Bhopal Memorial Hospital &
Research Center. 20 Mio. US$ dienten dabei als Anschubfinanzierung, 90
Mio. US$ gingen an die Stiftung des Krankenhauses zur Sicherung der
langfristigen, kostenlosen Patientenversorgung. Ein paar Jahre nach der Übernahme in einem Interview nach der Verantwortung für Bhopal als Rechtsnachfolger der Union Carbide India in Indien befragt, antwortete ein nicht namentlich genannter Offizieller der Eveready Industries India: „Eveready ist weder für die Umweltverschmutzung noch für die Entsorgung der giftigen Chemikalien in Bhopal verantwortlich. Daher müssen wir uns auch an keiner Säuberungsaktion beteiligen.“ Wenn überhaupt, dann sollte der damalige Besitzer der UCIL, die UCC in den USA, für die Aufräumarbeiten auf dem Gelände haften. Die Anlage hatte zum Zeitpunkt des Erwerbs durch die Williamson Magor Group in den Büchern der Firma keinen Vermögenswert mehr.“ |
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In
den USA kam es im Laufe der Jahre zu mehreren Klagen gegen die Union
Carbide Corporation, wie z.B. J.B. Sahu & Andere vs. Union
Carbide
Corporation & Anderson. Aber alle Anschuldigungen und
Forderungen
wurden abgewiesen. So wies z.B. das US-Bezirksgericht in Manhattan eine
Klage zurück und entschied, dass Union Carbide Corporation
&
Anderson nicht für die Sanierung der Umweltschäden
haften
müsse. Den umfangreichen Unterlagen zur Entstehungsgeschichte
der
Firma zufolge habe die UCC nur eine untergeordnete Rolle bei der
Planung der Fabrik und des Abfallbeseitigungssystems der Anlage
gespielt. Daher sei für die Entstehung und die Entsorgung der
Abfälle die Firma Union Carbide India verantwortlich, und
nicht
die Union Carbide Corporation in den USA; außerdem liege die
Verantwortung ebenso bei der Landesregierung des Bundesstaates Madhya
Pradesh. Auch die Union Carbide Corporation selbst schob die Verantwortung auf die indische Seite: „Gesetze, Vorschriften und Richtlinien der indischen Regierung und der Landesregierung von Madhya Pradesh durchdrangen von Anfang an alle Aspekte der Planung und Durchführung der Anlage. Es konnte keine wichtige Maßnahme ohne Zustimmung beider Parteien beschlossen werden. Die indische Regierung zwang die UCIL zu einer größtmöglichen indischen Beteiligung bei Konzeption, Beschaffung, Bau und Betrieb der Anlage und zu einer Minimierung jeglicher ausländischer Beteiligung.“ |
Dampfbehandlung eines Langzeitopfers in der Sambavhna Klinik in Bhopal. Danach kann er sich für ein paar Stunden ein wenig bewegen. |
Parallel zu den Strafanzeigen gegen die Union Carbide Company in den USA und ihren ehemaligen CEO, lief in Indien von 1989 bis Juni 2010 ein Gerichtsverfahren gegen sieben ehemalige Führungskräfte des Unternehmens UCIL. Diese wurden wegen „krimineller Nachlässigkeit“, nicht wegen „fahrlässiger Tötung“, wie die ursprüngliche Anklage lauten sollte, zu jeweils zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 100.000 INR (2010 etwa 2.180 US$) verurteilt, mit zulässiger Kautionsstellung in Höhe von 25.000 INR (2010 etwa 550 US$). |
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Vater mit seinen zwei Söhnen, 16 und 12 Jahre alt, beide geistig behindert |
Apotheke der Sambavhna Klinik. Die Medikamente sind für Gas-Opfer kostenlos. |
Im
Februar 2001 übernahm dann der amerikanische Konzern Dow
Chemical
Company für 11,6 Mrd. US$ die Union Carbide Company und wurde
damit
nach DuPont zweitgrößter Chemiekonzern der Welt. Von
den
Opferorganisationen in Bhopal wurde danach der Versuch unternommen, Dow
Chemical als Rechtsnachfolger der UCC zur Verantwortung zu ziehen. Dow
Chemical lehnt aber bis heute jegliche Verantwortung strikt ab. Die
Begründung folgt im Wesentlichen den Urteilssprüchen
amerikanischer
Richter bei früheren Klagen gegen die UCC, oder sie beruft
sich darauf,
als Dow Chemical doch nichts mit der Geschichte zu tun gehabt zu haben.
In diversen Stellungnahmen wiederholte Dow Chemical, dass sie niemals
Eigentümer oder Betreiber dieser Anlage gewesen sei, dass die
Anlage
unter der Aufsicht des Bundesstaats Madhya Pradesh stehe, dass Dow
Chemical die Aktien der Union Carbide Corporation über 16
Jahre nach
der Tragödie übernommen habe und dass ja bereits eine
Wiedergutmachungszahlung geleistet wurde. 2012 veröffentliche Wikileaks E-Mails der texanischen Detektei Stratfor, die von der Hackergruppe Anonymous entwendet worden waren. Unter den Kunden von Stratfor befand sich demnach u.a. auch Dow Chemical, die Bhopal-Aktivisten bespitzeln ließ, die sich für eine Entschädigung einsetzten. Darunter befand sich auch die Aktivistengruppe „Yes Men“, die zum 20. Jahrestag des Chemieunglücks eine fiktive Kampagne startete, in der Yes-Man Andy Bichlbaum auf BBC-World als Dow-Chemical-Sprecher Jude Finisterra auftrat und sich für das Leid der Bevölkerung entschuldigte und zwölf Milliarden US-Dollar für die Hilfe der Opfer in Aussicht stellte. |
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Auf
der Homepage von Dow Chemical kann man in der Rubrik „Unsere
Werte“ lesen: "Wir sind sicher, dass uns die
Übernahme
sozialer Verantwortung nicht zurückwirft, sondern voranbringt.
Wir
verlassen uns auf die Integrität aller unserer
Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter und auf ihre unterschiedlichen Erfahrungen,
Hintergründe und Perspektiven. Wir glauben an die Kraft des
Unterschiedlichen. Wir arbeiten jeden Tag an unserer Kultur der
Innovation, Verantwortung und Vielfalt." Die Nachwirkungen von damals sind aber im Alltag in den betroffenen Vororten in Bhopal noch immer präsent. Im Jawaharlal Nehru Krankenhaus, nicht weit vom ehemaligen Fabrikgelände der UCIL, seien von 1.000 Patienten, die täglich im Krankenhaus behandelt werden, noch ca. 40% Geschädigte des Gasunglücks. Auch hier ist die Versorgung der Gas-Opfer kostenlos. Eine weitere Institution, die die Überlebenden der Tragödie von Bhopal seit 1996 medizinisch versorgt, ist die gemeinnützige Sambavhna Klinik, die von Satinath Sarangi und der Organisation Bhopal Medical Appeal gegründet wurde. Ca. 45.000 Menschen wurden bisher hier behandelt, täglich kommen etwa 150 Patienten in die Klinik. Die Spenden würden fast ausschließlich in England akquiriert, erklärte mir einer der dort arbeitenden Ärzte. Diese private Initiative sei aber unter den Organsiationen, die sich für die Opfer engagieren, nicht unumstritten, da sie es den staatlichen Stellen leichter mache, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. |
Slum an den Bahngleisen hinter dem ehe- maligen Fabrikgelände der Union Carbide India |
Links eine Aktivistin aus dem
Slum, die an diesem Tag von einer Demonstration in Neu Delhi
zurück kam
Der Zug rattert langsam durch das Slum |
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Diese
These könnte durch die folgende Nachricht widerlegt werden,
die
die Times of India am 15.11.2014 veröffentlichte. Danach hat
sich die
indische Regierung bereit erklärt, die Zahlen der Opfer des
Unglücks zu
revidieren, auf der die damalige Berechnung der
Entschädigungszahlungen
beruhten und die Höhe der Hilfsgelder entsprechend anzupassen.
Diese Entscheidung erfolgte nach einem Hungerstreik von fünf Frauen, den sie am 10. November in New Delhi begannen. Die Frauen wurden von 200 Überlebenden der Bhopal-Tragöde unterstützt. Sie erhielten die schriftliche Zusage, dass die Anpassung der Daten noch bis zum 2.12.2014 erfolgen wird. „Wir begrüßen diesen wichtigen Schritt der Regierung. Nun muss Premierminister Modi sicherstellen, dass das Versprechen seiner Regierung auch eingehalten wird", sagte Audrey Gaughran, Direktor von Amnesty International für globale Fragen. Laut einer Greenpeace-Studie würden sich die Kosten einer Sanierung des vergifteten Geländes in einer Größenordnung von ca. 30 Mio. US$ bewegen. Selbst wenn es doppelt so viel wäre – angesichts des Ausmaßes der Verschmutzung und des verursachten Leids ist das eine für die Beteiligten Parteien mögliche, zu finanzierende Summe. Wenn sich nur die Einsicht durchsetzen würde, dass das bisherige Gegeneinander zu nichts geführt hat und es sinnvoller wäre, das Problem gemeinsam anzugehen, dann wäre sicher auch eine Lösung möglich. Dann könnte irgendwann einmal, vielleicht schon in wenigen Jahren, endlich Gras auch über die Geschichte wachsen. |
Abhi |
Ehemals betroffenes Gebiet, JP Nagar Slums, Bhopal |
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- - - Startbild: Abhi Batham, geistig behindert; angenommene Ursache der Behinderung ist kontaminiertes Grundwasser |
Auch
die Filmindustrie hat das Thema der Bhopal-Tragödie
für sich
entdeckt. In den USA lief vor ein paar Tagen der Bollywood-Film
„Bhopal - A
Prayer for Rain“
an. In Indien soll der Film am 5. Dezember 2014 in die Kinos kommen,
zwei Tage nach dem 30. Jahrestag der Tragödie. Film: Bhopal: A Prayer for Rain |